Wie ich die Berge lieben lerne | von Günter Seefelder

Den Text hatte ich für eine Lesung geschrieben und vorgetragen, bei der meine um sechs Jahre ältere Schwester gekommen war. Meine Schwester hatte mir die Inspiration der Berge und der Natur vermittelt und es sollte ein Danke-Schön für ein solch wertvolles Geschenk für das Leben sein. Mir ist dieser Text umso wichtiger, da meine Schwester zwei Jahre später verstorben war.

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Wie ich die Berge lieben lernte

Mich umfließt eine leichte Brise frischer, ja fast kühler Luft, obwohl es ein heißer Sommertag in Tirol ist. Ich bin noch innerlich aufgeheizt von dem Aufstieg und genieße die frische Bergluft. Ich sitze hier auf einer rustikalen Bierbank, vor mir ein Zipfer-Bier, hinter mir der Eingang zur Vorderkaiserfeldenhütte im Zahmen Kaiser. Drüben in den Brandenberger Alpen – jenseits des dazwischen liegenden Inntals – werden die Bergspitzen immer mehr von der untergehenden glutroten Sonne umhüllt. Die hohen Felsaufbauten des Wilden Kaisers spiegeln das rote Abendlicht wider und verleihen dem Abend und der anbrechenden Nacht eine einzigartige und magische Stimmung. Mir kommen viele Gedanken.

Was ist es, was mich immer so sehr berührt, wenn ich hoch oben am Berg sitze und das Spiel der Natur betrachte, wie sich die Wolken verändern, sich verschmelzen, sich trennen, an den Rändern ausfransen, aufbäumen und zusammenfallen, wie das Licht mit seinem Schatten spielt und wie es vom Hellen über das Rote zum Dunkel wird. Meine Gedanken fliegen umher wie die Schwalben im Frühling. Ich erinnere mich, als ich mit meinen Eltern in Mayrhofen im Zillertal im Urlaub war. Ich war noch nicht zehn Jahre alt. Im Hintergrund sah ich die großen Berge der Zillertaler Alpen und dachte mir, wenn ich groß bin, dann bin ich sicherlich mutig genug, einmal da hinauf zu gehen. Die Berge übten schon damals eine Faszination auf mich aus und erzeugten eine starke Sehnsucht.

Meine sechs Jahre ältere Schwester Gudrun hatte auch diese Freude an den Bergen und übertrug ihre Faszination auf mich. Fast jedes Wochenende verbrachte sie mit ihren Freunden auf der Schwarztenn-Hütte in den Bayerischen Voralpen hinter Rottach-Egern Richtung Achensee. Häufig nahm sie mich mit seit ich etwa 12 Jahre alt war, Sommer wie Winter. Diese Phase dauerte mehrere Jahre und prägten meine Begeisterung von den Bergen. Ich war immer froh und glücklich, mit dabei sein zu können. Und ich war sehr stolz, so eine Schwester zu haben, die mich mitzog und tief inspirierte.

Den Aufstieg empfand ich als mühsam. Ich zählte die Holzmasten. Sie trugen Stromleitungen hinauf zur Schwarztenn-Hütte. Dann rechnete ich, wie viel Prozent des Weges ich schon zurückgelegt habe und was ich noch gehen müsse. Diese Rechnereien lenkten mich ab und machten den Weg leichter. Erst kürzlich ging ich wieder den Weg und er erschien mir leicht und ich wunderte mich, dass ich damals den Weg als mühsam empfand. Was macht die unterschiedlichen Wahrnehmungen aus, von heute zu damals? Ist man sportlicher geworden? Traut man sich heute mehr zu als in der Jugend?

Vor allem im Winter war der Weg zur Schwarztenn-Hütte abenteuerlich. Der Aufstiegsweg – ein breiter Forstweg – war immer gut zu gehen, aber der Zugang zur Schwarztenn-Hütte, gerade mal 100 Meter vom Weg entfernt, war oftmals tief verschneit. Einmal waren Gudrun, ihre Freunde und ich die ersten, die am Freitagabend zur tief mit Pulverschnee verschneiten Hütte kamen. Die Freunde spurten und ich folgte. Gerade noch konnte ich über die Schneedecke hinwegsehen. Wir brauchten eine gefühlte Ewigkeit, bis wir dann an der Hütte waren. Diese war sehr kalt, weil seit einer Woche niemand mehr da war. Jetzt galt es, den Ofen anzuheizen, einen festen und schweren Eisenofen, wie wir ihn damals auch zuhause in München hatten. Es dauerte lange bis es wohlig warm war. Ich liebte das Knistern des Holzes im Ofen, die große Hitze direkt daneben und die Kälte, wenn man sich auf eine der nur drei Meter entfernten Holzbänke setzte. Nur die Luft wurde warm, Boden, Bänke, Tische und Geschirr trugen dagegen noch die tiefe Kälte in sich. Es dauerte Stunden, bis auch all dies warm war.

Immer wieder ging die Türe auf und weitere Freunde von Gudrun kamen herein, Mütze, Schultern und Schuhe voller Schnee bedeckt. Es war ein wohliges Gefühl, wenn sich immer mehr Freunde in der sich langsam erwärmenden Hütte mitten in dieser tiefen Schneelandschaft trafen.

Einzig und allein trübte den wohligen Gedanken die Tatsache, dass wir am Ende des Abends hinauf in den kalten Schlafsaal gehen und die wohlig warme Stube verlassen mussten. Die damaligen Decken waren starr und ebenso kalt wie die Luft.

Einer der Freunde fragte mich an einem Abend, ob ich denn Skifahren könne. Ich sagte „nein, ich bin noch nie auf Skiern gestanden und habe auch keine“. Er meinte, das sei kein Problem. Er zeigte mir Skier, die ich morgen nutzen könne. Das waren damals noch lange und fein geschliffene Holzbretter, bei denen man mit einem Federzug fest in Eisenbacken eingebunden und mit dem Ski verbunden war, bei denen sich nichts öffnete, wenn man stürzte. Dann zeigte er mir Felle, die ich beim Aufstieg auf den Gipfel draufspannen müsse, damit ich beim Hochgehen nicht nach hinten rutsche. Ich fragte, wie ich denn den Berg hinunterkommen könne. Er meinte wiederum, das sei kein Problem, ich brauche nur geradeaus nach unten fahren und wenn es mir zu schnell wird solle ich mich einfach hinsetzen. Der Schnee sei ja tief genug, so dass das sehr weich sei und ich müsse nur aufpassen, dass ich die Skier nicht über Kreuz bringe.

So hatten wir das dann am nächsten Tag gemacht. Nach einem mühsamen Aufstieg – ich ging immer Gudrun hinterher – stand ich jetzt oben auf dem Berg, vor mir eine steile Abfahrt mit tiefem Pulverschnee. Gudrun und ihre Freunde waren überglücklich und freuten sich auf die Abfahrt. Meine Freude war eher gemischt von Freude, Erwartung und Angst.

Gudrun fuhr los, die Freunde hinterher. Sie teilten den unberührten Hang auf, jeder zog seine eigenen Spuren im unberührten Schnee. Ich wartete noch, sammelte Kraft und vor allem Mut. Ich hörte von unten die Rufe „Auf geht’s! – fahr einfach zu! Ist ganz einfach!“ Was sollte ich machen? Stehen bleiben war genauso schlecht wie loszufahren. Ich überlegte, aber allein wollte ich hier nicht bleiben. Gudrun und ihre Freunde waren bereits weit unten am Ende des Hangs. Ich hätte viel gegeben, hätte ich zaubern können, um dort unten zu sein. Je weiter die Skifahrer gefahren waren desto mehr musste ich mich entscheiden, meine Angst zu besiegen und einfach nur loszufahren. Ich gab mir einen inneren Ruck und fuhr los. Nur gerade aus nach unten, keine Kurve. Ich hörte nur das Rufen von Gudrun und ihrer Freunde aus dem Äther: „Die Ski immer gerade halten!“

Bald wurde es mir zu schnell und meine Angst legte nochmals zu. Ich probierte das Bremsen aus und ließ mich mit dem Hosenboden in den Schnee fallen. Das war in der Tat sehr weich und machte sogar Spaß. Wieder das Rufen von unten und die Anweisungen! Jetzt fasste ich Mut, fuhr nochmals an und ließ es laufen, auch wenn ich das Gefühl hatte, viel zu schnell zu fahren. Nur nicht verkanten, nur nicht verkreuzen! – waren meine Gedanken, in voller Konzentration gemischt mit Ängsten. Ich vertraute auf mein Glück und fuhr und fuhr und fuhr. Mir erschien es wie eine Ewigkeit. Plötzlich war ich bei Gudrun und ihrer Freunde – Erleichterung!. Welch eine Wonne war es, als ich mich dort mit großem Genuss in den Schnee fallen lassen konnte! War gar nicht so schwer! Warum hatte ich denn solche Angst?

Im Sommer gingen Gudrun und die Freunde oftmals auf den nahegelegenen Roß- und Buchstein. Von der Schwarztenn-Hütte aus sahen diese beiden Zwillingsberge mit seinen felsigen Aufbauten sehr verwegen aus. Irgendwann hatte ich mal den Mut zu fragen, ob ich denn mitgehen könne. Aber sie lehnten ab und meinten, das sei zu gefährlich für mich. Es mussten noch zwei Jahrzehnte vergehen, bis ich es wagte, den Roß- und Buchstein zu besteigen. Etwas enttäuscht war ich, dass ich den Weg als nicht schwierig empfand und meinte, den hätte ich damals auch schon geschafft.

Später suchte ich mir dann viele Viertausender als Bergsteigerziel, einschließlich dem Matterhorn in Zermatt oder dem Mont Blanc in Frankreich. Da es in Europa keine höheren Berge mehr gab aber ich höher hinaus wollte, wich ich dann in die Anden nach Equador aus. Auch wenn diese hohen Berge, wie etwa der Chimborazo mit 6268 m Höhe nochmals eine ganz große Besonderheit für mich waren: Die schönsten Gedanken und Erinnerungen waren stets meine Erlebnisse auf der Schwarztenn-Hütte mit meiner Schwester Gudrun.