München, Kufstein Innsbruck, das geschundene Inntal, immer wieder überqueren sie den mächtigen Strom, er erklärt, “der Inn entspringt im oberen Inntal, das liegt in der Schweiz, dort habe ich schon viele Wanderungen gemacht.” Mit den Bergen muss sie seine Liebe teilen.
Er ist im Rentneralter angekommen, sie wird dieses Jahr 60, und sie sind nicht immer einer Meinung? Sie begleitet ihn in die Berge und er führt sie sicher hindurch. Sie sucht nach Menschen und Gschicht`n und er nach der europäischen Idee.
Die Bahn zieht sich das Brennertal hoch, über ihnen die Europabrücke dominiert die enge Schlucht. Sie, “die Bahn fährt langsam”, er wäre lieber mit dem Auto gefahren, weise meidet er einen Kommentar. An der Haltestelle in Brixen steigen sie um nach Klausen. Ihr Kennerblick entdeckt ein Meerschweinchen unter der Kostümjacke einer Dame es sitzt in ihrer offenen Hand. Wohl ein Arztbesuch?
Sie hat sich eingebildet vom Eisacktal hinaufzusteigen. Die Brennerautobahn ist allgegenwärtig. Sie gehen entlang der Eisack, der süße Duft der blühenden Linde ist betörend. Das Rauschen des eisblauen Flusses vermischt sich mit dem Rauschen des Autostroms.
Oft hat sie auf der Fahrt nach Italien auf Klausen hinuntergesehen, die alten Kirchtürme, die Dächer und stolzen Bürgerhäuser stehen dicht beieinander. Im Dorfkern ein Wegweiser, Kloster Säben, es thront über dem Städtchen. Ein heiliger Ort, bereits ab 350 n. Chr. zum Bischofssitz erkoren, ab 990 residierte dann der Bischof in Brixen und seit den 60er Jahren in Bozen. Steile Stufen führen hinauf, wie sie die engen Gassen verlassen brennt die Sonne, in der Hitze werden ihr Schritte langsam. Er tänzelt neben ihr. Am frühen Nachmittag sind sie die einzigen Wanderer.
Über Wiesenhänge, sonnenhungrigen Weinreben und Obstbäume, steigen sie auf kleinen Teer- und Schotterstraßen, Meter für Meter den Berg hinauf. Was ist ihr Ziel, nicht weniger als die Bergspitze bei über 2000 Meter Höhe, das ist sie ihm schuldig, aber auch er zahlt einen Tribut, sie hat ihm eine Übernachtung auf halber Höhe abverlangt.
Latzfons liegt bei 1100 Meter, der letzte und höchste Ort am Berghang. Im Dorfkern die Kirche, ein Lebensmittelladen, ein Gasthaus, zum weißen Hirschen. Sie ist allein im Zimmer, während er unten ein kaltes Bier zischt. Vom Balkon, sieht sie dem lautlosen Flug der Schwalben zu, unten das riesige Kloster wirkt klein, die Eisack im Taleinschnitt ist verborgen.
Auf dem Friedhof der Kirche ist jedes Grab mit frischen Blumen und einem schmiedeeisernen Kreuz ausgezeichnet. Letzte Woche war Fronleichnam, erklärt das die gepflegten Gräber? Sie denkt alle Dorfbewohner können aus den Fenstern ihrer Häuser auf die Ruhestätte ihrer Verwandten und Nachbarn sehen.
Während des Essens, sie vertraut auf die Empfehlung des Chefs, er bleibt bei Schnitzel mit Pommes, ist die Terrasse des Gasthauses belebt mit Rentnern aus Deutschland, die Wein, gutes Essen, Ruhe und viel Natur geniessen. Eine Gruppe junger einheimischer Männer sind beim Kartenspiel, sie findet nicht heraus um welches Spiel es sich handelt. Bevor sie sich schlafen legen, geht sie auf den Balkon, auf jedem Grab brennt ein Licht.
Morgens, nach dem sechs Uhr läuten des Glockenturms lauscht sie zwei Frauen, eine ältere und eine jüngere Stimme, im Zweiklang, begleitet vom Tschilp Tschalp der Spatzen, die im Sand ihre Morgentoilette verrichten, und schläft noch einmal ein.
Aus ihrem Vorsatz möglichst früh die Wiesenhänge hinaufzusteigen ist nichts geworden. Die Luft ist hier oben etwas kühler. Der Holler blüht in den kleinen Bauerngärten. Eine sehr alte Frau kehrt die Veranda eines neurenovierten Bauernhauses. Wie die Alte die Beiden den Weg hinauf kommen sieht, unterbricht sie ihre Arbeit, zögert, schämt sie sich? “Guten Tag”, auf den Besen gestützt beantwortet sie den Gruß, “Griaß eich”. “Geht es hier hinauf zur Radlseehütte?” Sie bejaht und erzählt, sie sei selbst noch nie oben gewesen, aber immer auf den Almen, lächelt und setzt leiser fort, “wir hatn damols koan Goid.” Er sagt, “eine schöne Aussicht hier oben, deutet mit dem Finger auf die mächtigen Felsen, die auf der anderen Talseite über die grünen Bergrücken herausspitzen, die Geisslergruppe und der Schlern. Die alte Frau lächelt, ja, sagt sie und “hoaß is, z abens gibt a Gwitter”.
Die kleine Rast ist mit dem Gespräch beendet, die Wiesen sind gemäht, steil zieht sich der Weg nach oben, oben sieht sie eine Teerstraße, dann Wald und wieder Berghänge. Sie zwingt sich nach alt bewährter Methode nur an den nächsten Schritt zu denken. Oberhalb der Teerstraße ein Weiler, ein alter Mann steht im Schatten der Scheune, auch ihn fragen sie nach dem Weg. Er deutet nach oben, natürlich immer nach oben. Die Wiese steht hoch, der Weg kaum sichtbar. Der Alte sagt, es sei die letzte ungemähte Wiese, sei viel Arbeit und er könne nur eine nach der anderen mähen. Er schaut in den wolkenlosen Himmel, “z abens gibts a Gwitter”.
Sie setzen den Weg fort, ein hoher Baum auf der Hälfte der Wiese spendet den einzigen Schatten, sie rechnet, bisher sind sie vielleicht 250 Höhenmeter hinaufgekommen fehlen immer noch 600 Meter.
Auf dem nächsten Hof wartet ein großer Hund, sie spricht ihn an,”na Kleiner”, er wedelt kräftig, hier sind auch die Hunde freundlich.
Ein Heuwagen fährt fast senkrecht den Hang hinauf, oben ein Wanderparkplatz, ein Wegweiser, “Radlseehütte 2 Stunden”, sie ist entmutigt. Er bestimmt in guter Laune die Autokennzeichen, deutsche Urlauber und ein paar Südtiroler.
Nach dem Wald, der letzte Hof, kleine Stallungen, Ziegen, ein kleines Königreich für Kinder mit Schaukel, Rutsche und Sandkiste, eine gebückte Großmutter mit ihrem Enkel. Gibt es hier eine Ferienwohnung, sie, “ja eine”. Im Schatten des Waldes ist die Luft frischer, Schmetterlinge tanzen auf einer Lichtung, nach einer Stunde kommen sie zu den Almen, wieder geht es direkt den Berg hinauf, auf den Almen werden die Wiesen nicht gemäht, er erzählt den Witz mit den Schafen “mäh doch selbst”.
Rast an einem schlängelnden Bächlein, die Felsenkette im Süden ist mächtig gewachsen, das Tal verschwunden. Er nutzt die Zeit und liesst die Nachrichten aus aller Welt auf seinem Smartphone, sie fotografiert ihn, erklärt sie möchte eine Serie von ihm machen, “meine Arbeitsplätze unter freiem Himmel” er lacht.
Weiter oben sehen sie eine Hütte mit Gastbetrieb und essen die beste Fridattensuppe der Welt. Sie erinnert sich an ihre Ferien mit den Eltern in Südtirol.
Er beruhigt sie, die meisten Höhenmeter hast du geschafft, im weiteren Verlauf nutzt er die Wegabschneider während sie den Wanderweg Kurve für Kurve artig ausgeht.
Sie erreichen die Radlseehütte, dunkle Wolken haben sich zusammengezogen, die grosse Terrasse mit den vielen frisch geschlagenen Holzbänken und Tischen ist leer. Der Wirt spricht tirolerisch, “hat eppa hunga?
Auf dem Weg hinunter ins Tal bleibt sie wegen jeder einzelnen Blume stehen, schreit ihm nach, die musst du fotografieren. Dann schämt sie sich wegen ihrer lauten Stimme in der stillen Bergwelt. Sie kommen durch Föhren- Kiefer- und Lärchenwälder, welches sind nun die Zirbeln?
Ein Aussichtspunkt, unten liegt Brixen, sie erkennt den Dom, rundum das Altstadtviertel. Eingerahmt von dem Lauf der Eisack zusammen mit der mächtigen Rienz aus dem Pustertal ist sie ein starker Strom geworden.
Wie sie weiter über die Weiler, Höfe und kleine Ortschaften gehen denkt sie an Reinhold Messner, den bekanntesten lebende Südtiroler und an Luis Trenker, dem begnadeten Erzähler aus ihrer Kindheit und weshalb gerade Südtirol so nationalsozialistisch war, und wie es heute um den Fremdenhass steht?