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Der neue Tag fängt an zu dämmern. Etwas ist heute anders, alles ist milchig und nebelig, irgendwie unheimlich. Ich habe das Gefühl, dass es heute Nacht ganz besonders kalt war. Ich muss tief und fest geschlafen haben. Wie lange habe ich geschlafen? Haben mich die Ereignisse der vergangenen Tage in einen Tiefschlaf versetzt?
Ich war an dem Fluss weit unten im Tal auf der Jagd, als mich mehrere Männer angriffen haben. Ich konnte sie in die Flucht schlagen. Wer waren diese Angreifer? Waren das etwa Jäger aus dem Jenseits, böse Geister?
Ich flüchtete in die Berge, dorthin wo es nichts Lebendiges mehr gibt, keine Bäume, keine Blumen, keine Wiesen, und wo auch die Vögel nicht mehr hinfliegen. Nur die Götter wohnen hier. Die Angreifer haben mich bis hierher verfolgt? Gestern Abend spürte ich einen Schlag von hinten und ich hatte das Gefühl, von einem Pfeil getroffen worden zu sein. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Dieser eigenartige Nebel. Ich habe Angst. Noch nie in meinem Leben hatte ich Angst, weder vor den Menschen, nicht vor den Tieren und auch nicht vor den Geistern, Göttern und Dämonen, die ich immer nur gerufen habe, um Menschen bei ihrer Suche nach verloren gegangenen Seelen zu helfen. Liegen die Antworten für meine Fragen im Nebel verborgen?
Meine Gedanken werden klarer. Ich mache die Augen auf und blicke dorthin, wo ich gestern meine Sachen abgestellt habe. Verschwommen erkenne ich, dass alles ist wie gestern Abend. Die zerbrochenen und die unfertigen Pfeile sind noch in meinem Köcher, der Bogen lehnt an dem Felsen, mein Tragegestell ist in greifbarer Nähe. Mein Kupferbeil ist auch noch da. Nicht einmal dieses wertvolle Stücke haben sie mitgenommen.
Ich versuche tief in mich zu gehen, um Antworten auf all die Fragen zu finden. Ich rufe den Großen Bären. Schon oft hat er mich in gefährlichen Situationen beschützt und mir den Weg gezeigt. Er wird sicherlich auch diesmal eine gute Antwort für mich haben.
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Ein Geräusch reißt mich jäh aus den Gedanken. Das Geräusch kommt von oben, ist weit weg und laut. Ich kenne ein solches Geräusch nicht.Es klingt wie ein schwerer Wasserfall, der mit großem Getöse die Felswände herunterstürzt. Hier gibt es aber keine Flüsse. Ich versuche, durch den Nebel nach oben zu blicken, um etwas zu erkennen. Nichts! Das Geräusch kommt näher. Jetzt fliegt ein großer Vogel schräg über mir im Nebel. So große Vögel habe ich noch nie gesehen. Das ist kein Vogel, das ist ein Dämon aus der Unterwelt, der mich sucht! Haben die Angreifer mich hierher weit nach oben in die Berge gelockt, damit er mich hier besser finden kann? Wo sind die Götter? - Ich verharre wie versteinert.
Der Dämon ist gelandet, nicht weit weg von mir. Ich sehe, wie aus seinem Gefieder Menschen herauskriechen.
Die Menschen kommen näher, schauen mich staunend an. Welch seltsame Kleidung! Sie tragen keine Bärenfelljacken, keinen Lendenschutz, keine grasgeknüpften Schuhe. Ich kann ihre Sprache nicht verstehen. Ich würde gerne weglaufen, aber mein Körper reagiert nicht - ist immer noch erstarrt.
Die Menschen knien neben mir nieder, packen meine Sachen ein. Sie wollen mich nicht töten. Sie gehen behutsam mit mir um. Der Dämon verharrt an dem Ort, wo er gelandet ist, ist regungslos und still.
Ich versuche erneut, den Großen Bären zu rufen. Er, die Geister und Ahnen werden mir helfen.
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"Marco, hol den Heizstrahler und die Wasserpumpe aus dem Hubschrauber. Wir müssen erst die Arme der Leiche freilegen. Wir wollen nicht die Pickel verwenden, sonst könnten wir den Körper verletzen. Die Stümper von gestern haben schon genügend Schaden angerichtet. Und spanne das Zeltdach über die Fundstelle. Es wird bald wieder schneien." ruft Giovanni. Giovanni ist Professor für Ur- und Frühgeschichte und leitet die Bergung einer Gletscherleiche auf dem Tisenjoch in den Ötztaler Alpen auf einer Höhe von 3.200 Meter.
Marco kommt zurück.
"Hier ist der Heizstrahler. Ich stelle den Stromgenerator weit weg, damit keine Rußpartikel hierher fliegen."
"Hättest Du Dir jemals gedacht, hier die Bergung einer Gletscherleiche zu leiten? Solche findet man doch sonst nur im Tal, wo der Gletscher sien ach einigen Jahrzehnten hin transportiert und die Gletscherschmelze sie dann freigegeben hat?"
"In der Tat, das ist alles sehr eigenartig. Wir werden noch viel erforschen müssen."
Er macht eine Bewegung mit dem Arm und mit ausgestrecktem Zeigefinger im Halbkreis. Marco folgt mit seinem Blick.
"Schau hin, hier ist eine Steinmulde. Die Leiche liegt genau in der Senke. Der Gletscher ist über die Leiche hinweg geflossen und hat sie liegen gelassen. So wie die aussieht, liegt die schon lange hier."
"Wahrscheinlich schon einige hundert Jahre."
"Nein, sicherlich länger, die Ausrüstung ist älter, wahrscheinlich schon mehr als 1000 Jahre. Das ist keine Leiche, das ist eine Mumie."
"Schau her, Marco, wie gut die Mumie erhalten ist. Man sieht an den Füßen und Händen und an der Wirbelsäule sogar noch die Tätowierungen. Eigenartig, diese sind genau an der Stelle der Akupunktur-Punkte. Das kann kein Zufall sein. Solche Tätowierungen habe ich bei Mumien in Peru und in Sibirien gesehen. Schon lange werden von den Urvölkern solche Tätowierungen benutzt. Ich bin gespannt, auf welches Alter wir kommen, wenn wir die Untersuchungen im Labor gemacht haben."
"Wir müssen vorsichtiger mit dem Heizstrahler umgehen, sonst versengen wir noch die Haut dieser Mumie. Schalte den Strahler eine Stufe zurück und strahle von der Mumie weg. Diese soll gefroren bleiben. Schick den Piloten zurück und stelle mit den Gendarmen unsere Zelte auf. Der Pilot soll morgen wieder kommen. Wir bleiben heute Nacht hier. "
Marco bittet die beiden Gendarmen, ihm beim Aufstellen der Zelte zu helfen. Einer ist von der Gendarmerie von Bozen und einer von Innsbruck. Denn die Mumie liegt genau auf der Grenzlinie von Nordtirol zu Südtirol und deshalb sind behördliche Vertreter von Österreich und Italien bei der Bergung anwesend.
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Immer wieder rufe ich den Großen Bären. Vollkommen in Gedanken versunken, sehe ich ihn in der Ferne, wie er durch den Schnee auf seinen vier Pratzen auf mich zuläuft - langsam, geschmeidig, ja geradezu majestätisch. Er kommt näher, näher, immer näher, richtet sich auf und bleibt mit seiner stattlichen Größe vor mir stehen. Er sieht mich an. "Großer Meister, Du mich hast gerufen, wie Dir ich helfen kann?"
Ich erzähle ihm die Geschichte, die sich gestern und heute ereignet hat.
Der Große Bär schweigt, sieht mich bedächtig an, als wolle er mich mit seinen Gedanken umhüllen - langsam fängt er zu reden an: "Du - lange hast geschlafen. Die Welt sich hat verändert. Fremd Du wirst ihr sein."
"Großer Bär. Wo bin ich? Sag mir, was soll ich machen!"
"Du von den Göttern bist auserwählt. Du Deine Geschichte den Menschen erzählen sollst. Deine Hilfe sie brauchen."
Aufsteigender Nebel umhüllt den Großen Bären. Es wird dunkel. Der Große Bär ist verschwunden.
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Am nächsten Morgen kommt der Hubschrauber zurück. Es ist stürmisch, Neuschnee peitscht über die Hochfläche - auf den ungeschützten Wangen ein Gefühl wie von 1000en von Nadelstichen. Der Pilot bleibt sitzen, die Rotoren drehen sich weiter. Er ruft Marco so laut er kann zu, der an seine Tür gekommen ist: "Soll ich hier warten? Ich kann bei dem Wetter nicht lange bleiben."
"Wir sind fertig." schreit Marco zurück. "In dieser Blechwanne liegt die Mumie. Flieg sie ins Labor und hole uns dann ab. Wir räumen jetzt zusammen."
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