//
//
//
Es zieht eine leichte Brise frischer, ja fast kühler Luft um mich, obwohl es ein heißer Sommertag in Tirol ist. Ich bin noch innerlich aufgeheizt von dem Aufstieg und genieße die frische Bergluft. Ich sitze hier auf einer rustikalen Bierbank, vor mir eine Halbe Zipfer-Bier, hinter mir der Eingang zur Vorderkaiserfeldenhütte im Zahmen Kaiser. Ich schaue hinunter ins Inntal, Richtung Kufstein. Eine schöne Wolkenstimmung begleitet meine Blicke. Die Wolken ziehen sich zusammen, verlieren sich an den Rändern, teilen sich - um sich wieder zu vereinen.
Meine Gedanken machen es den Wolken nach. Fliegen durch die Lüfte, verlieren sich, ziehen sich zusammen. - Es wird Abend. Drüben in den Brandenberger Alpen - jenseits des dazwischen liegenden Inntals - werden die Bergspitzen immer mehr von der untergehenden glutroten Sonne umhüllt. Die Wolken verschwinden. Die hohen Felsaufbauten des Wilden Kaisers spiegeln das rote Abendlicht wider und verleihen dem Abend und der anbrechenden Nacht eine einzigartige und magische Stimmung.
Was ist es, was mich immer so sehr berührt, wenn ich hoch oben am Berg sitze und das Spiel der Natur betrachte. Meine Gedanken fliegen immer noch umher wie die Schwalben im Frühling. Ich erinnere mich, als ich mit meinen Eltern in Mayrhofen im Zillertal im Urlaub war. Ich war noch nicht zehn Jahre alt. Im Hintergrund sah ich die großen Berge der Zillertaler Alpen und dachte mir, wenn ich groß bin, dann bin ich sicherlich mutig genug, einmal da hinauf zu gehen. Die Berge übten schon damals eine Faszination auf mich aus und erzeugten eine starke Sehnsucht.
Meine sechs Jahre ältere Schwester hatte auch diese Freude an den Bergen. Fast jedes Wochenende verbrachte sie mit ihren Freunden auf der Schwarztenn-Hütte in den Bayerischen Voralpen hinter Rottach-Egern Richtung Achensee. Häufig nahm sie mich mit seit ich etwa 12 Jahre alt war, Sommer wie Winter. Diese Phase dauerte mehrere Jahre und prägten meine Begeisterung von den Bergen. Ich war immer sehr froh und glücklich, mit dabei sein zu können.
Den Aufstieg empfand ich als mühsam. Ich zählte die Holzmasten, die Stromleitungen hinauf zur Schwarztenn-Hütte trugen. Dann rechnete ich, wie viel Prozent des Weges ich schon zurückgelegt habe und was ich noch gehen müsse. Diese Rechnereien lenkten mich ab und machten den Weg leichter. Erst kürzlich ging ich wieder den Weg und er erschien mir leicht und ich wunderte mich, dass ich damals den Weg als mühsam empfand. Was macht die unterschiedlichen Wahrnehmungen aus, von heute zu damals? Ist man sportlicher geworden? Traut man sich heute mehr zu als in der Jugend?
Vor allem im Winter war der Weg zur Schwarztenn-Hütte abenteuerlich. Der Aufstiegsweg - ein breiter Forstweg - war immer gut zu gehen, aber der Zugang zur Schwarztennhütte, gerade mal 100 Meter vom Weg entfernt, war oftmals tief verschneit. Einmal waren meine Schwester, ihre Freunde und ich die ersten, die am Freitagabend zur tief mit Pulverschnee verschneiten Hütte kamen. Die Freunde spurten und ich folgte. Gerade noch konnte ich über die Schneedecke hinwegsehen. Wir brauchten eine gefühlte Ewigkeit, bis wir dann an der Hütte waren. Diese war sehr kalt, weil seit einer Woche niemand mehr da war. Jetzt galt es, den Ofen anzuheizen, einen festen und schweren Eisenofen, wie wir ihn damals auch zuhause hatten. Es dauerte lange bis es wohlig warm war. Ich liebte das Knistern des Holzes im Ofen, die große Hitze direkt daneben und die Kälte, wenn man sich auf eine der nur drei Meter entfernten Holzbänke setzte. Nur die Luft wurde warm, Boden, Bänke, Tische und Geschirr trugen dagegen noch die tiefe Kälte in sich. Es dauerte Stunden, bis auch all dies warm wurde.
Immer wieder ging die Türe auf und weitere Freunde meiner Schwester kamen herein, Mütze, Schultern und Schuhe voller Schnee bedeckt. Es war ein wohliges Gefühl, wenn sich immer mehr Freunde in der sich langsam erwärmenden Hütte mitten in dieser tiefen Schneelandschaft trafen.
Einzig und allein trübte den wohligen Gedanken die Tatsache, dass wir am Ende des Abends in den kalten Schlafsaal gehen und die wohlig warme Stube verlassen mussten. Die damaligen Decken waren starr und ebenso kalt wie die Luft.
Einer der Freunde fragte mich an einem Abend, ob ich denn Skifahren könne. Ich sagte: nein. Ich sei noch nie auf Skiern gestanden und habe auch keine. Er meinte, das sei kein Problem. Er zeigte mir Skier, die ich morgen nutzen könne. Das waren damals noch lange und fein geschliffene Holzbretter, bei denen man mit einem Federzug fest in Eisenbacken eingebunden und mit dem Ski verbunden war, bei denen sich nichts öffnete, wenn man stürzte. Dann zeigte er mir Felle, die ich beim Aufstieg auf den Gipfel draufspannen müsse, damit ich beim Hochgehen nicht nach hinten rutsche. Ich fragte, wie ich denn den Berg hinunterkommen könne. Er meinte, das sei kein Problem, ich brauche nur geradeaus nach unten fahren und wenn es mir zu schnell wird solle ich mich einfach hinsetzen. Der Schnee sei ja tief genug, so dass das sehr weich sei und ich müsse nur aufpassen, dass ich die Skier nicht überkreuz bringe.
So hatten wir das dann am nächsten Tag gemacht. Nach einem mühsamen Aufstieg stand ich jetzt oben auf dem Berg, vor mir eine steile Abfahrt mit tiefem Pulverschnee. Die Freunde meiner Schwester waren überglücklich und freuten sich auf die Abfahrt. Sie teilten den unberührten Hang auf, wer wo seine Spuren im Schnee zieht. Ich konnte all diese Freude nicht verstehen und sah nur ganz weit unten das Ende des Hangs. Ich hätte viel gegeben, hätte ich zaubern können, um dort unten zu sein. Meine Schwester und ihre Freunde fuhren los und riefen mir zu "Auf geht's!" Was sollte ich machen? Stehen bleiben war genauso schlecht wie loszufahren. Je weiter die Skifahrer gefahren waren desto mehr musste ich mich entscheiden, meine Angst zu besiegen und einfach nur loszufahren. Ich gab mir einen Ruck und fuhr los. Nur gerade aus nach unten, keine Kurve. Ich hörte nur das Rufen meiner Schwester und ihre Freunde: "Die Ski immer gerade halten!"
Bald wurde es mir zu schnell und meine Angst wuchs. Ich probierte das Bremsen aus und ließ mich mit dem Hosenboden in den Schnee fallen. Das war in der Tat sehr weich und machte sogar Spaß. Wieder das Rufen von unten und die Anweisungen! Jetzt fasste ich Mut, fuhr nochmals an und ließ es laufen, auch wenn ich das Gefühl hatte, viel zu schnell zu fahren - nur nicht verkanten! Ich vertraute auf mein Glück und fuhr bis zu meiner wartenden Schwester und ihren Freunden. Welch eine Wonne, als ich mich dort mit großem Genuss in den Schnee fallen lassen konnte!
Im Sommer gingen die Freunde oftmals auf den nahegelegenen Roß- und Buchstein. Von der Schwarztennhütte aus sahen diese beiden Zwillingsberge mit seinen felsigen Aufbauten sehr verwegen aus. Irgendwann hatte ich mal den Mut zu fragen, ob ich denn mitgehen könne. Aber sie lehnten ab und meinten, das sei zu gefährlich für mich. Es mussten noch zwei Jahrzehnte vergehen, bis ich es wagte, den Roß- und Buchstein zu besteigen. Etwas enttäuscht war ich, dass ich den Weg als nicht schwierig empfand und meinte, den hätte ich damals auch schon geschafft. Auch hier wieder die Frage: Was macht die unterschiedlichen Wahrnehmungen von damals und heute aus?
Später suchte ich mir dann viele Viertausender als Bergsteigerziel, einschließlich dem Matterhorn in Zermatt oder dem Mont Blanc in Frankreich. Da es in Europa keine höheren Berge mehr gab aber ich höher hinaus wollte, wich ich dann in die Anden nach Equador aus. Auch wenn diese hohen Berge, wie etwa der Chimborazo mit 6268 m Höhe nochmals eine ganz große Besonderheit für mich waren: Die schönsten Gedanken und Erinnerungen waren meine Erlebnisse auf der Schwarztennhütte.