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Die riesigen Eislandschaften verschwimmen in meinen Erinnerungen, sie lösen sich auf, verdampfen zu Nebel wie Trockeneis in der Sommerhitze. Ich sitze auf meinem Terrassenplatz in Herrsching. Vor mir wieder die alte Eiche und die Waldtaube gurrt mit ihrem Partner. Es scheint, als würden bald neue junge Waldtauben entstehen.
Lange sitze ich hier in der Nachmittagssonne. Meine vorherigen Bilder zur ehemaligen Eiswelt in Herrsching lassen mich immer noch nicht los. Meine Füße bohren sich in den Lehmboden ein, in den Sand unter meinen Füßen. Er fühlt sich weich und anschmiegsam an. Mein Interesse wächst, noch mehr in die Vergangenheit zurückzureisen. Ich will sehen, wie der Sand entstanden ist, der gerade meine Füße umgibt.
Ich greife nach meinem Mobilgerät. Die App Alex ist noch geöffnet von der vorherigen Reise in die Gletscherwelt. Ich öffne meinen Erdzeitkalender, der die gesamte Erdzeit von 4,5 Mrd. Jahren auf ein Jahr reduziert. Eine Sekunde im Erdzeitkalender entspricht 140 Jahre. Ich gebe Alex an, was ich bei meinem Sprung in die Vergangenheit sehen möchte. Alex schlägt mir eine Reise um 20.000 Jahre in die Vergangenheit vor. Ich gebe daher in meinen Erdzeitkalender den 31. Dezember um 23:58 Uhr und 49 Sekunden ein. Als Ort wähle ich Eibsee am Fuße der Zuspitze. Ich gebe den Breitengrad von 47.453 und den Längengrad von 10.991 an. Als Szenenausschnitt gebe ich eine Dauer von 20 Jahren an. Das bedeutet, dass ich vom Zielpunkt aus die Veränderungen der folgenden 20 Jahre als Film sehe. Zum Start und zur Schnelligkeit des Zeitraffers gebe ich eine Standzeit von eine halbe Stunde und für den Zeitraffer eine Dauer von 10 Minuten an. Ich kann also, wenn ich am Ziel angekommen bin, eine halbe Stunde lang alles betrachten wie es ist und danach laufen die folgenden Veränderungen von 20 Jahren in einer Dauer von 10 Minuten als Film im Zeitraffer ab.
Fertig! Die eingegebenen Daten werden mir als Liste gezeigt. Ich prüfe und bestätige dies. Jetzt drücke ich den Startknopf. In grüner Farbe leuchtet auf dem Display nacheinander auf:
Achtung - Konzentration - Start!
Ich sehe die Landschaften, die von Herrsching aus zum angegebenen Ziel in schneller Folge springen. Dort angekommen, sehe ich den mir sehr vertrauten Ort Eibsee und darüber die Zugspitze. Es fährt gerade eine Gondelbahn hinauf. Dann nimmt die Zeitreise Fahrt auf, immer schneller und schneller. Man sieht keine Details aber das Vorbeihuschen der Landschaft zeigt die enorme Schnelligkeit. Meine Gedanken springen in dem Strom der Zeit rückwärts, flußaufwärts wie die Lachse im Wildbach.
Nach kurzer Zeit kommen die Bilder zum Stehen, werden scharf. Ich lande auf einem Gletscher mitten in einem hohen und felsigen Gebirge. Nur die höchsten Bergspitzen ragen aus der Eislandschaft heraus.
Vor mir steht eine große Felsspitze eines Berges, die höchste aller Felsspitzen, soweit mein Auge reicht. Das muss die Zugspitze sein. Links davon schaut eine etwas niedrigere Felsspitze aus dem Eis, das muss die Alpspitze sein. Die Zugspitze schaut anders aus, als ich sie in Erinnerung habe, viel dicker und fülliger - ein gewaltiges Bergmassiv. Ich weiß, dass immer wieder Teile davon abgebrochen sind. Einige tausend Jahre später ist sogar ein gewaltiges Stück davon abgebrochen und das ganze Geröll ist erst jenseits des Eibsees zum Stillstand gekommen ist und schüttete dort einen großen Wall auf.
Ich stehe auf einer kleinen Felsnadel, wenige Meter unter mir gewaltige Flächen von Eis. Bis zum obersten Punkt der Zugspitze sind es vielleicht gerade mal 400 Höhenmeter. Bis zur Tiefe, wo später der Eibsee entstehen wird, sind es mehr als 1,5 km - jetzt alles gefüllt mit Eis.
Ich höre lautes Knacken von der Spitze. Einzelne Felsen fallen herunter. Ich kenne diese Steinschläge von meinen Wanderungen in den Alpen, als ich erlebte, wie sich von steilen Wänden Felsen in der kräftigen Nachmittagssonne zum Steinschlag lösten. Dies hier ist aber mehr als ein Steinschlag. Denn die herabfallenden Felsen werden immer mehr und größer.
Auch wenn ich weiß, dass ich in keiner Gefahr bin, weil ich ja nur virtuell und nicht physisch hier bin, macht sich Unsicherheit breit. Es fühlt sich dennoch gefährlich an und mein Inneres begehrt auf, will vorsichtig sein, will weg von hier.
Das Krachen und schlagen wird immer größer. Und plötzlich neigt sich eine komplette Wand. Sie stürzt mit riesigem Getöse herab. Ich staune, bin gerade Zeuge eines gewaltigen Bergsturzes mit Millionen Tonnen von Gestein und Geröll. All das fällt direkt auf den Gletscher, der nunmehr nicht mehr als Eislandschaft, sondern als Felsenkar erscheint, vollkommen bedeckt mit Felsen, Geröll und Schutt.
Die Standzeit des Bildes ist zu Ende. Jetzt beginnt der Zeitraffer. Die Szene beginnt sich nun zu bewegen. Neuer Schnee bedeckt den herabgefallenden Bergrutsch. Spalten im Gletscher machen sich durch die Bewegungen des Gletschers auf und verschlucken das Geröll. Langsam begräbt der Gletscher die Felsen und das Geröll, verschlingt es. Unter gigantischem Druck wird all dies in kleinste Teile gebrochen und zermalmt. Ich höre aus der Tiefe des Eises, vor allem aus den Randbereichen, an denen der Gletscher am Bergmassiv schrammt, das Knirschen und Krachen des berstenden Gesteins. Die einst so starken Felsen haben keine Chance, dem standzuhalten, der Gletscher ist übermächtig.
Das Bild verschwindet; ich sehe mich wieder auf meiner Terrasse in Herrsching sitzen. Meine Füße im Sand spüren plötzlich die großen Felsen, wie sie einmal Teil der majestätisch in den Himmel ragenden Zugspitze waren.