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Ich sitze auf meiner Terrasse mit Steingarten und Kieselsteinen. Jahrtausende lang haben die Gletscher die Steine geschliffen, nun grabe ich mich mit meinen nackten Füßen in diese ein. Die Terrasse ist ein paar Meter über dem Eingang zu unserem Haus. Ich liebe diesen Platz, er wirkt wie ein heiliger Platz, kraftvoll, majestätisch, naturbelassen - ein Aussichtsplatz hinunter zum Ammersee. Die Abendsonne senkt sich, nähert sich der Oberfläche des Sees, will diesen mit ihrer großen Kugel aussaugen. Nur ein kleines Fleckchen Wasseroberfläche ist sichtbar; alles andere von Bäumen und Häuser verdeckt.
Es weht leichter Wind. Eine Waldtaube fliegt mitten durch die erstrahlende Abendsonne und nimmt hoch über mir Platz auf einer Eiche. Sie lebt dort. Die Eiche ist wohl die höchste in dieser Umgebung. Der mächtige Stamm bildet eine Symbiose mit einem kraftvollen Efeu, der sich bis in die Krone hinaufzieht. Ein mächtiger Baum, wie alt er wohl ist? Ich denke, das sind sicherlich mehr als 200 Jahre. Zeitgleich mit seinem Heranwachsen legte der Kaiser des Heiligen römischen Reiches deutscher Nationen die Kaiserkrone nieder, eroberte Napoleon Bonaparte Europa und schrieben die Brüder Grimm die deutschen Märchen nieder.
Noch jung, aber schon mächtig, war diese Eiche, als Europa im 1. Weltkrieg im Chaos versank und über Millionen von Soldaten Leid brachte und Daheimgebliebene in Trauer versetzte.
Gab es damals hier schon Häuser? Wohl war dieser Platz noch reiner Wald. Ich denke, die Rehe werden meinen Kraftplatz als den ihren benutzt haben.
Ich höre hinter mir ein knirschendes Geräusch, wie wenn Eisen durch den Sand schleift. Ich blicke mich um. Der Hang geht hier noch weit hinauf. Bis vor wenigen Monaten war dort ein Wald, mit Buchen und Ahornbäumen, wohl ebenfalls wie meine Eiche mehr als 200 Jahre alt. Nur mit dem Unterschied, dass dort Forstarbeiter mit ihren mächtigen Kettensägen den ehrwürdigen Bäumen das Leben den Todesstoß versetzten. Es sollte Platz entstehen für mehrere Häuser. Herrsching vergrößert sich, neuer Bedarf an Wohnungen und Häusern besteht. Traurig ist das, was nun von diesem Stückchen Natur übrigblieb. Werden die Vögel nun im nächsten Jahr bei uns nisten oder fortziehen?
Das knirschende Geräusch stammt von einem Bagger, der den Keller für ein Haus aushebt. Er gräbt sich immer tiefer in den Boden. Nur ein kleiner oberer Bereich ist Erde, so dünn wie die Schale eines Apfels, entstanden wohl aus dem Laub der Bäume, den Wiesen und den Blumen.
Welche Geschichte kann uns der Sand erzählen, die viel älter sind, als die Geschichten, die uns die Eiche erzählen kann?
Meine Gedanken machen eine Zeitreise in die ferne Vergangenheit. Als der Sand hierher ankam, war hier alles voller Eis - vom Gletscher, der von den Alpen Richtung München floss, der große Steine und Felsen unter seiner Last zermalmte und zerrieb, so dass nur noch diese feine Masse Sand übrigblieb.
Ich sehe die Bilder des mächtigen Eismassivs, keine Eiche, keine Taube und auch kein See. Nur Eis, Eis, Eis - soweit der Blick reichte, bis das Eis am Horizont unter der Erdkrümmung verschwindet.
Wie hoch über mir wäre damals noch Eis gewesen? Ich stelle mir vor, wie ich hier in einer kleinen Kapsel tief im Eis sitze, geschützt vor den Massen von Eis, das kein Licht zu mir herunter lässt.
Heute sitze ich da, brauche keine schützende Kapsel, genieße die wärmenden Strahlen der untergehenden Sonne.