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Es ist Sommer 2006. Ich fahre mit dem Fahrrad von Mittenwald nach München. Zwei Tage sind geplant - über Wallgau, Vorderriß, Lenggries, Bad Tölz, Geretsried und Wolf-ratshausen. Unterwegs schaue ich mir die Wegweiser an, um noch Ideen für Wandertouren mitzubringen.
Zuhause angekommen erzähle ich meinem Vater von meiner Reise. Die Mutter ist be-reits gestorben, der Vater ist 93 Jahre alt. Wenige Monate später wird auch er gestor-ben sein. Als ich bei meiner Wegbeschreibung bei Wallgau angekommen bin, unterbricht mich mein Vater und sagt mir, dass er den ganzen Sommer 1933 auf der Maxhütte beim freiwilligen Arbeitsdienst verbrachte. Ich erinnere mich an den Wegweiser, der erst jetzt für mich besondere Bedeutung gewonnen hat. Fast wollte ich einen Abstecher auf die Maxhütte machen. Ich bedauere, dass ich das nicht getan habe.
Ich wollte mehr wissen und bat meinen Vater, mir doch von seinem Aufenthalt auf der Maxhütte zu erzählen. Er steigt in die damalige Zeit ein - wir befinden uns nun 73 Jahre in der Vergangenheit. 20 Jahre alt war mein Vater damals, die Weltwirtschaftskrise war in vollem Gange, die Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit war sehr hoch. Aus dieser Warte blickte mein Vater bei seinen Erzählungen zurück, weil die Ereignisse Grund dafür waren, dass er 1933 dort war.
Mit 14 Jahren hatte er eine Friseurlehre begonnen und war dann als Friseur tätig. Aber schon mit 18 Jahren konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Denn als Kind hatte er Kinderlähmung und ein Fuß war zurückgeblieben. Das viele Stehen bei seinem Beruf war ihm dann nicht mehr möglich. Die Post bot zu diesem Zeitpunkt an, bei ihr eine Ausbildung zu machen. Da die Arbeitslosigkeit sehr hoch war wurde allen Teilnehmern gleich zu Beginn gesagt, dass sie nach Abschluss der Ausbildung keinen Arbeitsplatz bekommen würden aber dann, wenn die Zeiten wieder besser werden, würde man auf diejenigen zurückkommen, die die Ausbildung gemacht haben. Mein Vater machte die Ausbildung und er musste nicht mehr, wie bei der Ausbildung zum Friseur, Lehrgeld bezahlen.
Seine Ausbildung bei der Post war beendet und jetzt war er 20 Jahre alt. Die Arbeitslosigkeit war zu dieser Zeit nochmals um einiges gestiegen. Zuhause konnte er nicht bleiben, weil sein Vater noch für seine jüngere Schwester verantwortlich war und für meinen Vater als weiteren Mitesser nicht genügend Geld vorhanden war, damit auch er noch ernährt werden konnte. Seine Mutter war bereits tot. Er war 15 Jahre alt, als sie verstarb. Mein Vater musste sich also, egal wie, auf eigenen Beinen durchs Leben schlagen.
Da war es ihm eine große Hilfe, dass 1931 durch die Regierung Brüning durch eine Not-verordnung der Freiwillige Arbeitsdienst im Rahmen des Gesetzes zur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für gemeinnützige Aufgaben eingerichtet wurde. Über viele Programme wurden arbeitslose Jugendliche und Erwachsene beschäftigt. Hier meldete sich mein Vater, um - wie er sagte, von der Straße weg zu sein - und er erhielt neben dem regelmäßigen Essen sogar auch noch ein kleines Salär von 50 Reichspfennigen in der Woche. Der Weg zum Dammkar - heute eine Skiabfahrt - sollte gebaut werden.
Mein Vater stand, während er erzählte, aus seinem Stuhl auf und suchte in alten Fotoalben nach einem bestimmten Bild. Er fand es. Das Bild zeigte ihn mit etwa zwanzig anderen ebenso jungen Männern. Alle diese jungen Männer hatten lange Arbeitshosen an und ihre Oberkörper waren unbekleidet. Alle waren hager, eher dürr aber dennoch athletisch muskulös.
Ich versuche, die damalige Gedanken- und Gefühlswelt zu erfassen. Wie fühlte es sich für arbeitslose junge Männer an, die am Beginn ihrer besten Jahre stehen, arbeitslos sind und von der Freude getragen werden, regelmäßig zu Essen zu haben? Das Bild vermittelte mir einen fröhlichen Ausdruck. Keine Schwere, die angesichts der tatsächlichen Lage verständlich gewesen wäre. Zuversicht, Freude und innere Kraft zeigten die Gesichter und die Haltungen der jungen Männer. Fast könnte man neidisch werden ob einer solch angenehmen sozialen Gemeinschaft Gleichgeschlechtlicher, in der sich offen-sichtlich alle wohl fühlten.
Plötzlich stellte sich jäher Szenenwechsel in meinen Gedanken ein, den ich nicht ausgesprochen und für mich behalten habe. Noch immer sitzt der Film "Die Brücke" tief in meinen Emotionen. Der Film begann ebenso wie dieses Bild mit einer fröhlichen Ge-meinschaft junger Männer. Aber der Film zeigt den Ausgang, wie diese jungen Männer bei der Verteidigung einer Brücke nahe ihrer Heimatstadt grausam gebrochen und die meisten von ihnen sinnlos getötet wurden. Aus Fröhlichkeit wurde bitterer Ernst. Wusste mein Vater, als das Foto gemacht wurde, was in den nächsten Jahren alles geschehen wird, was auf ihn zukommen wird? Wohl kaum.
Gerne würde ich aus meinem heutigen Verständnis heraus noch viele Fragen an meinen Vater stellen.