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Jäh wurden wir aus dem Schlaf gerissen. Ein Krachen und Reißen direkt unter unserem Zeltboden, wie ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala. Der Boden splitterte, machte sich mit ohrenbetäubendem Lärm auf, wollte uns in die Unterwelt hinabziehen und verschlingen. Ich schrie, voller Angst und Panik "Frederik wach auf, das Eis bricht!" Aber Frederik war schon durch das Krachen des Eises aufgewacht. Dazu brauchte es meines Schreiens nicht mehr.
Ich riss mit äußester Hast den Reißverschluss des Zeltes auf. Tiefe Kälte strömte herein. Die Sterne leuchteten wie immer, als wäre nichts geschehen. Wir hatten Glück, der Mond schien, es war wolkenlos. Es war fast Vollmond. Wir waren hier in der totalen Einsamkeit. Soweit das Auge reichte waren nur unendlich weite Eisflächen zu sehen, die sich mit dem dunklen Horizont verschmolzen und im Licht des Mondes eine furchteinflößende Stimmung erzeugten.
Mein erster Blick galt unseren drei Schlitten mit der Ausrüstung. Wenn diese ins Wasser fallen und versinken würden, würde das unser Todesurteil bedeuten. Schutzkleidung, Werkzeuge und Verpflegung waren in unseren Schlitten. Bei Lufttempertaturen von minus 30 Grad Celsius und mehr hätten wir keine Überlebenschance.
Unsere Schlittenhunde waren ebenfalls hell wach. Es schien, dass keiner fehlte.
Entwarnung! Die Panik wich....... Ich spürte die wohlige Wärme meines Blutes, wie es meine Wangen durchfloss. Die Schlitten standen noch so, wie wir sie gestern abgestellt hatten. Kein Riss in der Eisscholle, der sie gefährden könnte. Das Eis dort war etwas dicker als außen herum.
Frederik untersuchte den Riss, der sich unter unserem Zelt gebildet hatte. Der Riss war schmal, nicht mehr als 10 cm klafften auseinander. Wir waren erstaunt, denn wir hatten gestern unseren Schlafplatz gerade hier ausgesucht. Wir wähnten uns sicher. Die Unter-strömung musste sehr stark gewesen sein, sonst hätte es das Eis, das sicherlich fast zwei Meter dick war, nicht zerreißen können. Eis in dieser Kälte ist hart und fest wie Stahl.
Der erste Schreck verflog - Glück gehabt! Bedenken wuchsen. Denn wenn die Unterströmung weiterhin stark und das Eis durch den Bruch nunmehr instabil war, so könnte das bedeuten, dass die eigentliche und größere Gefahr kurz bevorstand. Hastig bauten wir unser Zelt ab. Es war nicht beschädigt. Wir verstauten es auf unseren Schlitten.
Plötzlich wieder dieses Krachen und Knirschen! Ich zuckte zusammen ..... bis ich in der nächsten Sekunde erkannte, dass das Eis diesmal in der Ferne brach. Aber das Krachen und Reißen kam näher, wurde immer lauter. "Nur weg hier, das Eis reißt wieder!" schrie ich. "Der Bruch kommt auf uns zu!" Und jetzt sahen wir auch im Schein des hellen Mondlichtes, wie das Eis bricht und wie der sich öffnende Spalt geradewegs auf uns zukommt! Wie ein gigantischer Wurm aus der Unterwelt bewegte sich der Riss auf uns zu in der Absicht, uns zu verschlingen. Wir starrten auf das, was kam. Den ohrenbetäubenden Lärm nahm ich im Schreck gar nicht wahr. Noch 100 Meter, noch 50, noch 30, noch 10 und ----- Stille! ------- Ich hatte das Gefühl, dass nur mein lautes Herzklopfen die Stille durchbrach.
Der Riss endete vor unseren Füßen, setzte sich nicht weiter fort. Er verlor jäh seine Kraft in dem Riss von vorhin.
Frederik und ich schauten uns schweigend an. Mir kam das wie eine Ewigkeit vor, aber das waren sicherlich nur wenige Sekunden. Wir schauten uns um und in der Ferne, etwa 500 Meter von hier entfernt, sahen wir eine größere Erhebung, wo sich ursprünglich zwei Eisschollen übereinander geschoben hatten und dann durch die Kälte gemeinsam erstarrt sind. Zwei übereinander gelagerte Eisschollen bildeten dort eine Einheit. Das sollte uns retten. Wenn alles brechen würde, dieser Teil des Eises würde stabil bleiben.
Unsere Hunde zogen die Schlitten dorthin und bald erreichten wir unser Ziel. Oben auf der schrägen Eisfläche sicherten wir unseren Schlitten.
Jetzt kamen sie wieder, meine inneren Zweifel. War es richtig, sich in solche Risiken der unberechenbaren Natur zu wagen? Ein Ziel zu erreichen, das noch niemals ein Mensch zuvor erreicht hat? War es dies wert? Ich dachte an Eva und daran, dass sie wohl schwanger war, als ich aufbrach - sie war sich noch nicht ganz sicher. Wenn sie schwanger war, dann würde sie mittlerweile schon ein kleines Baby haben. War es ein Junge, war es ein Mädchen?
Mir kam in Erinnerung als ich Eva beim Skifahren in Frognerseteren kennengelernt hatte.
Das hat mein Leben beeinflusst und ich bin ängstlicher geworden. Und ich dachte daran, wie geschickt sie war, mich von einer Ehe zu überzeugen, war ich doch zuvor eher ein Gegner einer solchen Institution.
Was wäre gewesen, wenn uns das Eis in die Tiefe des Meeres gezogen hätte. Ich hätte Leid über Eva gebracht. Es war ohnehin sehr schwer für mich, zu diesem Abenteuer aufzubrechen und Eva zurückzulassen. Ich beruhigte sie beim Abschied damit, dass ich auch diesmal wie bei den früheren Expeditionen wieder heil zurückkommen werde und dass unser neues Schiff so gut ausgerüstet ist, wie es nie zuvor der Fall gewesen war. Wollte ich damit eher mich beruhigen, meine Zweifel bekämpfen, mich selbst überzeugen, dass es richtig ist, was ich mache? Ich war froh, dass Eva nicht wusste, dass Frederik und ich das Schiff verlassen hatten, um zu Fuß unser Ziel zu erreichen. Das Schiff war zwar wie geplant heil im Eis eingefroren aber driftete entgegen aller Berechnungen in die falsche Richtung.
Es begann zu dämmern und je heller es wurde, desto mehr verloren sich meine Zweifel. Die Kraft der Besessenheit war stärker. Ich wollte unbedingt das Ziel erreichen.
Wir warteten, bis es hell genug war, um auch den fernen Horizont zu sehen. Im Süden hörten wir noch in der Ferne das Brechen und Reißen des Eises. Im Norden war es still. Das ermutigte uns. Im Norden schien entweder das Eis dicker zu sein oder es fehlte dort die zerstörerische Unterströmung. Dorthin nach Norden wollten wir. Wir hatten noch ca. 660 km bis zum Nordpol. Das sollte in 50 Tagen zu schaffen sein.
von Günter Seefelder