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Schon lange hatte ich eine Reise nach Spitzbergen in die Artis geplant. Eine solche Reise fehlte mir noch nach meinen Bergtouren auf viele Gletscher wie etwa im Wallis, Berner Oberland oder Frankreich - weite Landschaften, Lebensbedingungen, die nicht für Menschen geschaffen sind und Horizonte, die meist nur zwei Farben haben: weiß und blau - hier komme ich in Welten, die uns evolutionsgeschichtlich näher stehen als Großstädte, Autobahnen oder Einkaufszentren, die durch ihre Schönheit und Rauheit ein tiefes Gefühl von Harmonie geben, in denen wir den Antworten zum Sinn des Lebens näher kommen.
Die Reise ist mit Schnee-Scootern ausgeschrieben. Lieber wäre es mir gewesen, mit Schlittenhunden die Tour zu machen, zu sehen, wie sich Mensch und Tier zu einer Gemeinschaft vereinen, wo Mensch und Tier aufeinander angewiesen sind; aber der Zeitplan hierfür war zu knapp.
Ich bereite meine Ausrüstung vor, lese Bücher, schaue Filme an, weiß jetzt, dass Spitzbergen ein Archipel ist, bestehend aus mehr als 400 Inseln und dass die Gegend um Longyearbyen an der Süd-West-Küste wegen des vorbeiziehenden Golfstroms die einzig bewohnbare Gegend ist. Wenn wir Mitte März starten, dann ist die Polarnacht bereits seit vier Wochen beendet. Sie dauert in Longyearbyen fast vier Monate, nämlich vom 26. Oktober bis 16. Februar. In dieser Zeit ist es stets Nacht. Die Sonne geht nie auf.
Dann ist es endlich so weit, ich bin am Flughafen beim Einchecken. Mein Flug geht von Frankfurt am Main nach Oslo und dann weiter nach Longyearbyen. Am Schalter fragt mich ein freundlicher junger Mann, ob Spitzbergen zu Norwegen gehört. Jetzt hat er mich auf dem linken Fuß erwischt, dazu habe ich zu wenig gelesen. Ich kann ihm nur sagen, dass Norwegen die Verwaltung hat. Er erklärt mir den Grund seiner Frage. Wenn der Weiterflug von Oslo nach Longyearbyen Inlandsflug ist muss ich mein Gepäck in Oslo abholen und es zum Weiterflug wieder einchecken. Wenn es ein internationaler Flug ist wird das Gepäck automatisch umgeladen.
Ich war erstaunt, welch profane Auswirkungen diese Frage hat, ob Spitzbergen norwegisches Staatsgebiet ist. Ich nutze die Wartezeit bis zum Abflug und recherchiere im Internet.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Spitzbergen ein für alle Staaten uninteressantes Land. Lediglich der Fischfang, insbesondere der Walfang interessierte sich für diese Region. Mit der Industriealisierung änderte sich jedoch das Interesse, weil die Insel über Kohlevorkommen verfügt, die qualitativ überdurchschnittlich gut sind. Im Hinblick auf das steigende internationale Interesse an der Inselgruppe wurde im Februar 1920 in Paris der so genannte Spitzbergenvertrag geschlossen. Spitzbergen war immer staatenlos und blieb dies auch nach dem Spitzbergenvertrag. Der Archipel wurde nicht norwegisches Staatsgebiet, sondern dem Land wurde lediglich die Verwaltung übertragen. Ziel des Spitzbergenvertrags war, die friedliche Entwicklung sicherzustellen. Militärische Aktionen sind dort verboten. Alle Angehörige der Vertragsstaaten haben das Recht auf Arbeit und zur Unternehmensgründung. Die Gewinne müssen aber in Spitzbergen bleiben. Der Anteil nicht-norwegischer Nationalitäten ist daher auf Spitzbergen sehr hoch. Die Inselgruppe wird seit dem Spitzbergenvertrag im norwegischen Sprachgebrauch auch Svalbard genannt, was kühle Küste heißt.
Ich komme ich Oslo an und bin verunsichert, ob mein Gepäck auch wirklich automatisch umgeladen wird. Es wäre fatal, wenn ich in der Arktis ohne meiner Fotoausrüstung wäre. Ich denke, es sei besser, nochmals zu fragen und gehe zur Information. Der Gesichtsausdruck war klar, der Herr war sich nicht sicher, er schickte mich vorsorglich zum Schalter der Fluggesellschaft. Hier erhalte ich eine klare und zweifelsfreie Antwort: Das ist ein internationaler Flug, mein Gepäck wird automatisch umgeladen. Vorsorglich gehe ich noch zur Gepäckankunft. Mein Gepäck ist nicht dabei. Das ist gut so. Es wird offensichtlich automatisch umgeladen. Ich bin beruhigt.
Auf Longyearbyen übernachten wir in einer Unterkunft der Minenarbeiter. An einem langen Gang liegen aneinandergereiht die kleinen Zimmer, links und rechts jeweils mit zwei Betten ausgestattet. Die Schutzhelme für die Minenarbeiter sind noch aufgereiht, als würden die Minen noch in Betrieb sein. Aber sie wurden vor einigen Jahren geschlossen.
Heute übernimmt der Tourismus die Infrastruktur. Wir treffen vorwiegend junge Leute, Sportler, die die Gegend mit Langlaufski erkunden aber auch Abenteurer, die Longyearbyen als Basiscamp für längere Unternehmen mit Zelt und Ski zur Ostküste nutzen, wo die Eisbären leben. Erlaubt ist dies nur mit Führern, die eine eigene Zulassung benötigen. Spitzbergen will so verhindern, zu sehr mit Rettungsaktionen in die Pflicht genommen zu werden. Zu gefährlich sind nicht nur Eisbären und Kälte, sondern auch die Orientierung. Kein Baum, kein Haus, nichts dient der Orientierung. Wenn dann noch die Sicht schlecht ist bedarf es erhöhter Kenntnisse der Navigation, um den richtigen Weg zu finden.
Kohle hier in der Arktis, denke ich? Wie kann das sein, dann müsste es hier irgendwann sehr grün gewesen sein? Ich recherchiere zu diesen Fragen und bin erstaunt. Die Inselgruppe wanderte in 600 Mio Jahren vom Südpol bis fast zum Nordpol und vor ca. 40 bis 60 Mio Jahren war das Klima in der Arktis anders. Die Temperaturen waren warm und gemäßigt, es wuchsen Mammutbäume bis zu 50 m Höhe.
Nicht nur für Sportler und Abenteurer ist Longyearbyen heute interessant. Es gibt dort eine Universität, die internationale Forschungsprojekte in der Arktis koordiniert. Wir werden von dem Projektleiter über die aktuellen Projekte informiert. Meereskunde, Wetterkunde und Geophysik sind beliebte Forschungsprojekte.
Am nächsten Tag geht es weiter nach Barentsburg, in der Luftlinie 30 km entfernt. Auch dieser Ort ist als Bergarbeitersiedlung entstanden. Der Ort ist russisch und es wird noch Kohle abgebaut. Es gibt keinen direkten Weg dorthin. Wir umfahren die Berge und sind mit unseren Schnee-Scootern zwei Stunden unterwegs. Wir haben teilweise große Schwierigkeiten, mit unseren Schneemobilen durch bergiges Gelände und Neuschnee zu fahren. Oft bleiben wir stecken und mussten die Scooter wieder ausgraben.
Dann geht es weiter nach Pyramiden, dem nördlichsten Ort der Erde und im Inneren der Insel. Der Ort liegt in der Luftlinie zwar nur ca. 6o km nördlich von Longyearbyn im Inneren der Insel. Wir stellen uns aber auf eine lange Fahrt ein, weil wir einen großen Fjord umfahren müssen. Je weiter wir uns vom Golfstrom entfernen, desto rauer wird das Klima. Am Nachmittag kommen wir auf eine Hochebene, über die der Wind mit -25° Celsius mit Sturmgeschwindigkeit fegt. Mir wird bewusst, was es heißt, wenn Temperaturen in tatsächlicher und gefühlter Temperatur angegeben werden. Gefühlt sind es -40° Celsius. Der Sturm ist so heftig, dass er von mehreren Scootern die Frontscheibe wegreißt. In hohem Bogen schießen sie über die unendlichen Weiten von Schnee und Eis. Nichts hält sie auf. Mir bläst der Sturm durch kleine Öffnungen unter den Helm, so dass ich Erfrierungen im Gesicht erleide. Das fühlt sich an und sieht auch so aus wie ein starker Sonnenbrand. Nach mehreren Tagen ist es dann aber verheilt.
Spät in der Nacht kommen wir in Pyramiden an. Der Ort liegt knapp beim 79. Breitengrad. Ein großes Schild mitten in dem kleinen Ort berichtet davon mit Stolz. Damit liegt Spitzbergen erheblich nördlicher als Kanada oder Alaska. Zum Nordpol sind es gerade mal noch 1000 km.
Ich bin fasziniert von dem Ort. 1921 haben hier die Schweden mit dem Kohleabbau begonnen. Wenige Jahre später hat die noch junge Sowjetunion den Ort übernommen und vor 50 Jahren für ca. 1200 Minenarbeiter und ihre Familien ausgebaut. Pyramiden hat einen Hafen, der aber weitgehend zugefroren ist. Sogar ein Kindergarten wurde errichtet. Die Gebäude sind alle in guter Bausubstanz, aber verlassen. Denn 1998 entschieden sich die Russen, die Kohleförderung einzustellen. Lange Zeit war dieser Ort völlig verlassen. Heute leben vier Menschen ständig dort. Sie versorgen uns vorzüglich in einem großen Hotel, das schon mal bessere Zeiten gesehen hat, als viele Besucher im Zusammenhang mit dem geschäftlichen Treiben der Kohleförderung hierher kamen.
Das Wetter auf unserer Reise ist nahezu perfekt, an nur zwei Tagen schneit es, sonst immer klar und Sonnenschein. Die tiefstehende Sonne, die weiten Flächen aus Schnee und Eis und die in der Luft schwebenden Eiskristalle erzeugen eine faszinierende Stimmung. Wir erkunden die Hochflächen oberhalb von Pyramiden. Weite Flächen, bizarre Formationen im Schnee, die Wind und Kälte modelliert haben, Kunstwerke der Natur, fantastisch beleuchtet, und dazu die lieblich geformten Formen der Berge, ideale Formationen der Harmonie.
Für den Abend sind Nordlichter angesagt. Die Polarlichter werden durch elektrisch geladene Teile des Sonnenwindes erzeugt, die an den Polkappen auf die Erdatmosphäre treffen. Als es dunkel geworden war stellen wir unsere Ausrüstung in dem zugefrorenen Fjord auf. Wir warten, von Nordlichtern keine Spur, nichts. Ich betrachte den fantastischen Sternenhimmel und suche das Sternbild des Bären. Denn der Begriff Arktis kommt aus dem Altgriechischen und heißt Bär, weil die Region der Arktis unter dem Sternbild des Großen Bären liegt. Plötzlich! War da was? Zart und zunächst sehr unscheinbar sehen wir grünes Licht im Himmel flackern. Jetzt kommt es, das Polarlicht. Langsam steigert sich das Flackern - aus schwachen grünen Bändern werden starke und helle, mal breit, mal schmal, dazwischen Dunkelheit - der Himmel ist die Bühne, ein fantastisches Potpourri der Beleuchtung - ein Staccato des Lichterspiels.
Zwei Stunden später kehren wir ausgefroren aber mit vielen schönen Bildern im Kasten zurück.
Nach zehn Tagen seit unserer Ankunft geht es zurück nach Deutschland. In nur so kurzer Zeit hat die Umgebung eine tiefe Zufriedenheit in mir erzeugt. Wenn ich die Nachrichten aus der Welt von Terror, Politik, Geld und Intrigen lese, so kommen mir diese Nachrichten wie Nachrichten von einem fernen Stern vor. Aber diese Welt ist nur vier Flugstunden entfernt. Jetzt ist die Welt, von der ich komme, die andere Welt, die Welt am 48. Breitengrad.