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Der kleine Flugplatz aus sowjetischer Zeit steht noch, 2011 bildeten sich dort bei der einzigen Gepäckausgabe lange Warteschlangen.
Auf der kurzen Startbahn konnten nur kleinere Maschinen landen. Der neue Lemberger Flughafen ist ein moderner Glaspalast. Traurig wirken auf uns seine großen leeren Hallen. Die Erneuerung brachten die Gelder, die mit der Fußball Europameisterschaft 2012 in die Austragungsstädte der Ukraine flossen, nach Kiew, Charkiv, Donezk und Lemberg.
Bilder von Wikipedia "Flughafen Lwiw"Ein junger Mann, Pawlo von "Dreizackreisen" begrüßt uns, "willkommen in der Ukraine", sein flüssiges Deutsch überrascht uns. Er verhandelt am Schalter der polnischen Fluggesellschaft Lot über unsere vermissten Koffer, die sind bei der Zwischenlandung in Warschau geblieben. Sie sichern uns zu, das Gepäck nach Rachiw in Transkarpatien nachzufahren. Wir staunen, eine 6 Stundenfahrt, Pawlo lächelt, man könne sich auf die Zusicherung verlassen, also verlassen wir uns. Das ist "ukrainisch", wir vertrauen auf Handschlag und mündliche Zusagen.
Rückwirkend sind wir nie über das Ohr gehauen worden, abgesehen vielleicht von ein paar Hrywnja auf den Souvenirmärkten. Es war uns nicht zum Handeln zumute, wir stehen auf der Seite der Profiteure, der Euro hat in der Ukraine den fünf bis sechsfachen Wert.Wir fahren ohne Gepäck nach Süden, Ziel ist Rachiw, ein Bezirksstädtchen im Oblast (wie Bundesländer) Transkarpatien.
Landkarte von DreizackreisenDurch die schlechten Straßen sind die knapp 300 km bestenfalls in sechs Stunden zu erreichen. Zeit aus dem Fenster zu schauen, in den Ebenen Kornfelder, dazwischen Wiesen, auf manchen weidet ein Pferd oder ein paar Kühe und Ziegen. Städte mit Mietskasernen, die Fassaden sind alt, viele kleine Häuser, einige davon liebevoll gepflegt andere abrissreif, kleine Höfe mit Ställen, Gemüsegärten, Hühner picken am Straßenrand, die Stadtzentren lebendig, große Marktplätze mit gegossenen Denkmälern im glotzigen sowjetischen Stil, die goldenen Dächer der orthodoxen Kirchen funkeln im Licht der Sonne.
Je weiter wir fahren um so ländlicher, gebirgiger und schöner wird die Landschaft. Der Ort Rachiw ist eingebettet in die Bergrücken der Waldkarpaten. Das breite Flußbett der Theiß führt durch die Stadt. In der Nähe steigt der höchste Berg der Ukraine, die Howerla, bis zu 2061 Meter an.Der erste Tag beginnt mit einem besonderen Punkt, dem Mittelpunkt Europas. Er wurde von den Habsburgern 1887 gemessen und mit einem Betonkegel gekennzeichnet. Es gibt auch andere Orte, die sich dieses Ruhmes betiteln.
Zum Beispiel ein paar Meter weiter hat die Sowjetische Regierung einen neuen Mittelpunkt gemessen und mit einer entsprechenden Säule die älteren Habsburger überragt.
So ein touristischer Umschlagsplatz wird wie überall mit einem Souvenirmarkt gekrönt.
Wir kaufen ein Objekt, das die wahre Größe der Mächtigen zeigt, zum Preis von 20 Hrywnja, umgerechnet 75 Cent.
Über den geographischen Mittelpunkt lässt sich streiten, aber die politischen Grenzen Europas verändern sich in der Ukraine und das ist brenzlig. Die Krim wurde im März 2014 von der russischen Förderation annektiert. Die Seperatisten haben Doneszk und Lugansk im April 2014 zu unabhängigen Volksrepubliken ausgerufen. Von der europäischen Völkergemeinschaft sind diese neugezogenen Grenzen nicht anerkannt.
Ich sage, der Mittelpunkt der Welt ist immer da wo ich bin. Und ich bin hier am Ende der Welt.Das Herzstück unserer Reise sind die Wanderungen in den Karpaten. Ich bin neugierig, was begegnet uns? Die Flüsse sind gute Wegführer. Die weiße und die schwarze Theiß fließen zusammen, sie ist der größte Nebenfluss der Donau, ein Grenzfluß zwischen der Ukraine und Rumänien und der Ukraine und Tschechien, dann fließt sie durch Ungarn und Serbien, wo sie in die Donau mündet.
Eine alte Eisenbahnbrücke aus dem Doppelkönigreich Österreich-Ungarn.Dieses Jahr ist der Sommer sehr trocken, die alten Steine im Flußbett liegen offen, daneben liegt Müll, eine abgerissene Schuhsohle, eine gefangene Plastiktüte windet sich im Strom.
Ein Zigeunerbaron prunkt mit einem ganz besonderen Gartenzaun.
Ein Stück die Straße runter begegnen uns zwei alte Sowjetlaster.
Am Dorfeingang ein alter zerfallener jüdischer Friedhof.
In der Nähe eine neue orthodoxe Kirche. So kreuzen sich hier die Völker mit ihren Religionen und Kulturen und hinterlassen ihre Zeichen.
Und zuletzt ein neues ukrainisches Amphitheater mit den Sitzreihen in der Farbe der ukrainischen Flagge gelb blau, oberhalb von Rachiw mit dem Blick in den Ort.
Kürzt man die Geschichte ab besteht die Ukraine als unabhängiger Staat erst seit 1991, aber das ist ein Frevel erklärt uns Pawlo. Die Ukraine (Ukrajina) wurde bereits Anfang des 12. Jahrhunderts erwähnt und gehörte zu dem Fürstentum der Kiewer Rus. Und er erzählt uns was das Wort Ukrajina bedeutet; nämlich sowohl Rand, Grenze, als auch Land, und letzteres hat in der nationalukrainischen Geschichtsschreibung an Popularität gewonnen.
So sind auch die Farben der Flagge zu deuten, unten das Gelb der weiten Kornfelder, oben das Blau des Himmels.
Unser Reiseführer, Pawlo ist Pfadfinder, er fühlt sich seinem Land verbunden, seine Haartracht, ein schwarzer Schopf auf rasiertem Schädel ist ein Zeichen an seine Vor-vorväter, die Kosaken, die die Steppen "das wilde Feld" mit ihren kleinen wendigen Pferden bewohnten. Sie waren freie Krieger, Mut und Geschick zeichnete sie aus, unter ihrem gewählten Anführer, dem Hetman kämpften sie auch für Könige und Fürsten. Auf meine Bitte hin singt Pawlo mit schöner Stimme die ukrainische Nationalhymne:
"Noch ist die Ukraine nicht gestorben, weder ihr Ruhm, noch ihr Wille, Uns, ukrainische Brüder, wird das Schicksal auch noch anlächeln, Unsere Feinde werden verschwinden, wie das Tau in der Sonne, Und wir, Brüder, werden auch auf unserem Land leben. Und der Refrain: Die Seele und den Körper werden wir für unsere Freiheit riskieren, und zeigen dass wir Brüder des Kosakischen Stammes sind."
Ich summe die traurig-schöne Melodie leise mit und misstraue dennoch den wehmütigen Gefühlen, fürchte ich doch den Krieg und den Tod weiterer vieler junger Männer an der Ostgrenze der Ukraine, und dass sich die Massaker bei den Demonstrationen auf dem Majdan in Kiew weiter radikalisieren können.
Heute ist Vitali Klitschko der Zwillingsbruder von Wladimir Klitschko Bürgermeister in Kiew, ob er so gut regieren kann wie boxen, es wird sich zeigen. Er ist europafreundlich, wie der jetzige Präsident, einer der reichsten Männer der Ukraine "Petro Poroschenko", der 2014 nach dem Sturz von Janukowytschs gewählt wurde.
Nur die Kaffeekannen sind zu klein und Anna bringt immer wieder neue, um unseren unermeßlichen Kaffeedurst zu stillen. Im Nachhinein verstehen wir, Kaffee ist in der Ukraine teuer, und wäre ein ideales Gastgeschenk aus Deutschland gewesen.
Am Sonntag geht Anna in die frisch gestrichene orthodoxe Kirche am Ort. Die Kirchen in der Ukraine werden gut besucht.
Wassil beratschlagt mit uns jeden Morgen, bei ausgebreiteter Wanderkarte, die günstigsten Wege zu unseren Zielen. Gerne nehmen wir seine Kenntnisse und seinen Rat an. Bei Fragen rufen wir ihn von unterwegs an, er würde uns auch von überall her abholen. Wenn es dunkel wird macht er sich um uns Sorgen. Wenn wir zurückkommen lässt er sich unsere Erlebnisse ausführlich berichten. Wassil und Anna nehmen das Wort "Gasthaus" wörtlich.
Wir besuchen in einem Seitental an einem kleinen Fluß gelegen, eine natürliche Waschanlage für große schafswollene Decken und Teppiche. Huzulische Frauen und Kinder empfangen uns herzlich, ein Tisch wird gedeckt, Teppiche hängen zum Trocknen.
Die Nachbarin stellt sich als Kuma, Patentante vor, sie webt in den Wintermonaten Teppiche, nachdem sie die Schafswolle gereingt, geglättet und zu einem Wollfaden gesponnenen hat. Rund um uns herum riecht es nach Blumen, Pfefferminze, Heu, die Bienen summen und schlüpfen in die Blüten der Glockenblumen.
Die Leute sind durch und durch Selbstversorger, hinter einem selbsgezimmerten Zaun wachsen Gurken, Tomaten und Paprika, hier braucht es keinen Dorfladen und schon gar nicht einen Supermarkt. In dem kleinen Stall hören wir leises Hufgeklapper. Die Kuma zeigt uns ein Kälbchen, dann ein weißes und ein schwarzes Schafspärchen, sie sind zahm, ihre Wolle ganz weich.
Am nächsten Tag bei unserem Besuch der Schafhirten auf der Alm rät Wassil eine Flasche Wodka mitzubringen. Das Auto darf ruhen, der Weg führt uns über Rachiw, an den Bauernhäusern am Fluß entlang, begegnen wir einem alten Mann der Ziegen hütet.
Dann steigen wir über die Buchenwälder hinauf zu der bewirtschaften Almen. Uns empfängt der gute Geruch eines Holzfeuers. Über die Alm kommt eine Schafherde, flankiert von zwei mächtigen und bellenden Hunden. Übertönt von den harten Rufen der Schäfer. Die Herde wird eng zusammen in das offene Gatter getrieben. Die Schäferhündin ist läufig und der Rüde ganz toll, er wird weggesperrt, erst jault er, dann wird es still. Die Hündin ist noch jung, sie hat schon einmal Welpen geworfen.
Die Schafe werden zweimal am Tag gemolken, die Zitzen sind warm und weich, sie werden ausgestriffen und der volle Eutersack zusammengedrückt. Wir essen Schafskäse mit den Fingern und trinken Kaffee in ausgebeulten Blechtassen.
Pawlo überreicht das Geschenk, der Hirte füllt sein Schnapsglas. Pawlo trinkt keinen Alkohol, er erzählt beim Runtergehen, dass es eine wichtige Regel bei den Pfadfindern ist, denn Land und Leute gehen durch den Wodka unter. Anders lässt sich Armut und Hoffnungslosigkeit für viele nicht ertragen. Die Arbeit der Hirten wird mit wenig Geld, dafür aber mit Zigaretten und Wodka ausbezahlt.
Unsere Wanderung zu den höchsten Bergen der Ukraine führt uns zum Nationalpark. Wieder rät uns Wassil zum Wodka, diesmal für die Nationalparkwächter zum Hüten unseres Autos. Der Anstieg ist steil und geht ausnahmsweise nicht durch Buchenwälder sondern durch Nadelholzwälder, gleich ist es viel dunkler. Die waldwirtschaftliche Nutzstraße ist mit tiefen Reifenspuren gepflügt.
Wir sind nach mehrstündigem Aufstieg froh, die Almen zu erreichen, Ziel ist ein Gipfel mit Sicht auf die Howerla. Junge Burschen sind auf der Alm, bei ihnen junge Mädchen aus dem Dorf, heute ist Maria Himmelfahrt, Feiertag. In der Sonne döst ein junges Schwein, Pawlo erklärt, das Schwein bekommt die Molke, das ist der wässrige und abgeschöpfte Rest aus der zu Käse verarbeiteten Schafsmilch.
Hier oben finden wir Blaubeeren, Himbeeren und Preisselbeeren, sie versüßen unseren Weg durch die Latschenfelder. Rund um die Gipfel weht der Wind, unter uns auf einem Sattel liegt ein See, Pawlo erzählt, er heißt der "unheimliche See", dort liege der Eingang zur Hölle, das Wetter ändere sich hier schnell und wer darin bade fordere die Dämonen heraus. Wir sehen die nackte Kuppe der kegelförmigen Howerla, jeder Ukrainer hält es für seine Pflicht ihn einmal in seinem Leben zu besteigen. Die Berge rundum werden Schwarzberge genannt, weil die Nadelwälder so dunkel sind, unwillkürlich denken wir an den Schwarzwald.
Pawlo erzählt, der Kosake Momaj, ein Nationalheld, der Robin Hood der Ukraine sei in diesem Gebirge begraben. In der Volkskunst wird Mamaj als Kosak gern dargestellt, im Schneidersitz, eine Bandura spielend, am Boden hockend, mit einem Säbel, einem Speer und einer Pistole, im Hintergrund ein starkes Pferd, und auch der ukrainische Wodka fehlt nicht. In dem Baum hängen kopfüber Männer, was zeigt, dass Mamaj trotz seiner romantischen Erscheinung ein knallharter Kämpfer ist. Eine liebevoll ironische Auflockerung schwingt in vielen Darstellungen mit. Auch im Theater und Puppenspiel werden die unzähligen Abenteuer des Mamaj gerne gespielt. Wie Robin Hood so erzählt Pawlo, hat er von dem, damals polnischen Adel genommen und den geknechteten ukrainischen Bauern und Leibeigenen zurückgegeben.